Manfred Dannerbauer: Aufgerieben

Aufgerieben Roman Dannerbauer

Neuerscheinung

Manfred Dannerbauer Roman "Aufgerieben".

Coversujet: Hanna Regitnig-Tillian, “nature-nurture”, 2021, Acryl (80x120cm)

Manfred Dannerbauer

Aufgerieben

Roman

224 Seiten, Delta X Verlag. ISBN: 978-3-903229-37-2

Preis: 25 Euro (in den Warenkorb)

April 2022

Gymnasialprofessor Dr. Lang wirft gemeinsam mit einigen Schülern Farbbeutel und Buttersäure auf die Unterrichtsministerin, die zu Besuch an der Schule weilt. Sie wird leicht verletzt und Lang suspendiert. Ihn erwartet ein Straf- und Disziplinarverfahren und er weiß nicht, ob er seinen geliebten Beruf weiter ausüben darf. In einem Vorstadtcafé, wo ihn niemand kennt, denkt er über sein Lehrerdasein nach und darüber, wie es zu der Verzweiflungstat gekommen ist.

Lesen Sie hier Kapitel eins.

“Donnerstag, 14. Jänner

Ort: Linz, ein Bundesoberstufenrealgymnasium

Zeit: 10.00 Uhr

Die Schule glänzt heute besonders, das Putzpersonal hat wohl früher mit der Arbeit begonnen. In Begleitung des Direktors und des Landesschulinspektors schreitet die Unterrichtsministerin die Stufen des Jugendstilgebäudes in den ersten Stock hinauf. An den Wänden Bilder von Schülern des Kunstzweiges. Im Festsaal empfängt sie der Chor mit „We shall overcome“ von Pete Seeger. Fotos werden gemacht. Der Landesschulinspektor kommt ihr mit dem Gesicht zu nahe, sie zieht ihren Kopf zurück. Der Direktor ist außer Atem, er schwänzelt um die Ministerin herum, sie ist einen halben Kopf größer als er. Alle drei verschwinden in der Direktion. Kurz darauf erscheinen sie im Konferenzzimmer. Der Direktor stellt die Ministerin vor, sagt, dass man ihr während ihres Besuches keine Fragen stellen dürfe.
„Das hätte er sich sparen können“, flüstert der Chemielehrer seinem Unterrichtspraktikanten zu. Niemand applaudiert, die Lehrer sind beschäftigt, sie müssen in den Unterricht. Die Ministerin schlängelt sich durch die Tische, einer Lehrerin fallen Lehrmaterialien zu Boden: „Ich hab keinen Platz!“, sagt sie laut.
Fahrig klaubt sie ihre Sachen vom Boden auf. Inzwischen erreicht das Oberhaupt der Lehrerschaft den Sozialraum. Hier sitzt der Fachinspektor für evangelische Religion über seinen Heften. Er hat ein „Loch“, eine Freistunde, und sagt entgegen der Anordnung:
„Jetzt bin ich sechzig Jahre alt und hab noch immer keinen Sitzplatz, geschweige denn einen Schreibtisch. Ich muss meine Vorbereitungen zwischen Leberkäs-Semmeln und Krapfen machen!“
„Ja, ja, ich weiß!“, antwortet die verdutzte Ministerin und geht weiter. Der Direktor wirft ihm einen bösen Blick zu, der Landesschulinspektor schließt sich ihm an. Als sie das Konferenzzimmer verlässt, macht sich Erleichterung breit. Sie verabschiedet sich am Gang und geht in Begleitung ihres Chauffeurs die Stufen hinab zum Dienstauto. Einige Schüler laufen im ersten Stock zur Balustrade und werfen ihr Farbbeutel und Buttersäure nach. „Au“ schreit sie, als ein Wurfgeschoss ihre Brille trifft, sie stolpert. Im Gang stinkt’s. Einige Schüler johlen, andere laufen weg, einer ruft:
„Professor Lang hat auch geworfen!“ 

Ich stehe wie angewurzelt, bin zu keiner Regung fähig, ich weiß, ich bin zu weit gegangen. Aber es hat sein müssen! Eine Putzfrau hebt die zerbrochene Brille der Unterrichtsministerin auf, kehrt die kleinen Glassplitter auf eine Handschaufel. Ein Rettungsauto bringt die Ministerin ins Krankenhaus. Die Polizei, von einem dienstbeflissenen Kollegen per Handy verständigt, führt mich in Begleitung des Schulleiters und des Landesschulinspektors in die Direktion. Schüler und Lehrer stehen am Gang. Einige Schüler signalisieren Zustimmung:
„Endlich hat sich auch ein Lehrer getraut, etwas zu unternehmen!“, die Lehrer schütteln nur den Kopf, wenden sich ab.
„Wie konnte Lang nur, er hatte sich doch stets im Griff“, heißt es im Lehrkörper.
„Jetzt gibt’s wieder einen Job für einen Junglehrer“, sagt ein Kollege, der kein Freund von mir ist. Der Landesschulinspektor sagt:
„Dr. Lang, Sie sind suspendiert. Die Dienstbehörde wird ein Disziplinarverfahren gegen Sie einleiten!“
„Neben Sachbeschädigung wird auch ein Strafverfahren wegen leichter Körperverletzung auf Sie zukommen!“, sagt der leitende Polizeibeamte.
„Was ist bloß in dich gefahren?“, flüstert der geschockte Direktor; er will die Antwort gar nicht wissen. Die Schulglocke läutet …

Die Boulevardmedien stürzten sich wie Aasgeier auf den „Fall Lang“, erklärten ihn zum Gewalttäter, warfen ihm vor, Schüler aufgehetzt zu haben, und meinten, man solle aufmüpfige Lehrer stärker an die Kandare nehmen. Nachforschungen über den rebellischen Lehrer brachten zu ihrem Leidwesen nichts Brauchbares. Sie erklärten Lang zur Persona non grata. Der Lehrkörper wandte sich von ihm ab, obwohl einige hinter vorgehaltener Hand durchaus Verständnis für sein Handeln äußerten, aber niemand wollte seinen Arbeitsplatz riskieren …

Abseits des Innenstadttrubels sitze ich in einem kleinen Vorstadtcafé, von den Fenstern halte ich mich fern. Hier kennt mich niemand. Die Besucher sind meist Handwerker mit Migrationshintergrund, sie geben mir ungewollt Schutz. Der Boulevard: „Politik fordert strenge Bestrafung für gewalttätigen Lehrer!“, hat mich genug geprügelt. Glücklicherweise liegen keine Zeitungen herum, die am Klo zerreiße ich in kleine Stücke. Wieso habe ich mich zu dieser Tat hinreißen lassen? Ich, der jungen Menschen in schwierigen Lebensphasen stets zur Seite gestanden und sie gefördert habe. Bin ich ein unverbesserlicher Idealist, der an Gerechtigkeit und eine humane Gesellschaft glaubt? Hatte ich dieses Problem nicht auch als Doktorand und beim ORF? Vielleicht bin ich nur ein Idiot, der ein Blackout hatte? Ich denke nach, rühre langsam Zucker in meinen Kaffee und tauche ein in die Vergangenheit …”

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